„Narrenfreiheit“ für süddeutsche Strafjustiz

In einem Artikel zur Spruchpraxis des 1. Strafsenats (Vors. Armin Nack) heißt es:

“ In Baden-Württemberg und Bayern bedeutet das, dass Strafverfolgungsbehörden und große Strafkammern sich in einem Klima der fast vollständigen Freiheit von Kontrolle eingerichtet haben um nicht zu sagen: Narrenfreiheit genießen.
Übertrieben? Man nehme nur den Landgerichtsbezirke Mannheim, einem der 39 im Zuständigkeitsbereich des 1. Strafsenats. Der Verfolgungseifer am Rande des rationalen – man möchte fast sagen: die Verfolgungspsychose – der dortigen Staatsanwaltschaft und die Verfahrensgestaltung durch das Landgericht erregen immer wieder bundesweites Aufsehen. Nicht nur die Prozessodyssee des Harry Wörz  und die Justizinszenierung im Falle Jörg Kachelmann sind hier zu nennen, sondern auch die Heimsuchung des SAP-Gründers Dietmar Hopp, die diesen sogar veranlasste, eine Stiftung gegen Justizmissbrauch ins Leben zu rufen. Die dortige Justiz hat verinnerlicht, dass sie mit einer Rückendeckung durch den BGH immer rechnen kann und geht damit selbstbewusst um wie mit einer Blankovollmacht. Nicht von ungefähr klingt das obige Zitat des Tübinger Strafrichters oder Staatsanwalts („wie Oliver Kahn – der hält alles, was zu halten ist“) nicht etwa kritisch, sondern wie ein Ausruf eines Fans.“ (Oliver Garcia, myops 15 (2012), S. 60 f, Beck-Verlag)
Im Bereich der Haftbeschwerden gegen Entscheidungen der Jugendkammer kommt dieser in Mannheim zudem zugute, dass der Vorsitzende der Beschwerdekammer am OLG Karlsruhe langjähriger Vorsitzender der Jugendkammer in Mannheim war. „Seine“ damaligen Beisitzerinnen blieben vor Ort. So öffnet sich über den Mannheimer Entscheidungen der viel zitierte „blaue Himmel der Rechtskraft“. Für eine gefKV eines Jugendlichen gibt’s 3 Jahre; für den  Raub eines Handys u. dgl. unter Einsatz eines Messers durch einen Jugendlichen im Drogenmilieu gibt’s 4 J. 9 M.; die Sache wurde an der unzuständigen Jugendkammer angeklagt, die sie auch verhandelt hat. Zur Begründung hieß es in der Anklageschrift, die „Strafgewalt des Jugendschöffengerichts“ reiche nicht aus. Es kann dann nicht verwundern, wenn Garcia von „Narrenfreiheit“ spricht.

2 Gedanken zu „„Narrenfreiheit“ für süddeutsche Strafjustiz

  1. schneidermeister

    Leider gehen Ihnen bei Ihren Beispielen ein paar Sachen durcheinander :
    So fragt man sich, weshalb die angeblich so Verfolgungswütigen im Fall Kachelmann einen Freispruch rechtskräftig werden ließen, das „Oli-Kahn-II“-OLG Karlsruhe den Haftbefehl Kachelmann aufhob und weshalb der 1. Senat im Fall EnBw den Freispruch absegnete?
    Die Prozessodyssee Wörz lag an den Wiederaufnahmeverfahren,immerhin hat u.a. die badische Ziviljustiz dafür gesorgt, dass eine Wiederaufnahme überhaupt möglich wurde. Die tiefverbundene Freundschaft zwischen OLG Karlsruhe und LG Mannheim erscheint außerhalb der von Ihnen genannten Jugendkammersachen auch etwas zweifelhaft, denn das OLG hat das LG Mannheim zum Einstieg in das Wiederaufnahmeverfahren angewiesen.

    Abgesehen davon, dass die Strafkammern BW und Bay bis vor ein paar Jahren in Steuerstrafsachen wie alle anderen auch vor dem 5. Senat landeten, bei mit abgeurteilten Verkehrsdelikten immer noch vor dem 4. Senat und gelegentlich – wenn es um 129 ff. geht, beim 3. Senat.

    Und ob die Qualität darunter leidet? Na ja. Zuletzt fand man eine „laienhaft anmutende Beweiswürdigung“ laut 2. BGH-Senat beim LG Köln. Dass beim 1. Senat alles durchgehen würde, kann man z.B. den letzten Entscheidungen z.B. zur Hinweispflicht bei Auswechseln der Verdeckungstat, Tötungsvorsatz bei Tritt mit Fuß u.a. so mE nicht unterschreiben.
    Ich habe bei einer Veranstaltung mit RiBGH Fischer gehört, dass „sein“ 2. Senat von manchen Landgerichten oder Strafkammern gar keine Revisionen bekomme und er vermute, dass dort besonders fleißig gedealt werde. Ob das immer auch für die Angeklagten und die Rechtsstaatlichkeit besser ist als ein tendenziell verwerfungsfreundlicher Senat, weiß ich nicht.

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