Die gestrige Entscheidung des EGMR rüttelt an einem Dogma des deutschen Strafrechts: daß die Sicherungsverwahrung eine Maßregel der Besserung und Sicherung und keine Strafe sei. Daher sei das Rückwirkungsverbot, wie überhaupt bei Maßregeln (z.B. Entziehung der Fahrerlaubnis), bei der Sicherungsverwahrung nicht anwendbar. So hatte vor fünf Jahren noch das BVerfG unter dem Vorsitz von Winfried Hassemer entschieden. Deutschland kann nun die Große Kammer des EGMR anrufen. Die gestrige Entscheidung wird aber in jedem Fall das zumindest in der Theorie wohlgeordnete Verhältnis von Urteilsfolgen deutscher Strafgerichte durcheinander bringen.
Das strenge Rückwirkungsverbot der Artikel 7 EGMR, 103 II GG gibt nur deklaratorisch für den Bereich Strafrecht eine ungeschriebene demokratische Rechtsgarantie zugunsten des Bürgers wieder, die für jedes bürgerbelastende Gesetz gilt.Der EuGH schließt jede Rückwirkung zugunsten eines Mitgliedsstaates aus, gestattet sie ganz ausnahmsweise zugunsten des EU-Bürgers. Weiterer Klärungsbedarf bei den nationalen Gerichten besteht, um ihren Widerspruch zum EGMR und zum EuGH aufzulösen.